gegenwärme


die bunten wogen ölen hoffnung, gemeinsam gehen wir auf die dörfer, wir hören zu, wir widersprechen, wir haken uns ein und ziehen euch weg von den rohen, hämischen, kalten händen, löschen eure telegram-kanäle und legen neue zugänge, wir sprechen von solidarität und davon, dass die guten dinge immer länger dauern und ihr sagt, dass wir euch vergessen haben, und wir sehen uns an und sagen: wahrscheinlich stimmt das und: was können wir tun und ihr beginnt zu erzählen und wir widersprechen manchmal, denn demokratie ist kein konsumprodukt, aber wir müssen auch zugeben, dass wir uns nicht zuständig gefühlt haben und dachten, unsere wärme genüge auch für euch, aber euch ist kalt und immer wieder seht ihr euch um zu den freundlichen faschisten mit den einfachen botschaften, in den landstrich ohne dunkle hautfarbe, es kommt ja keiner mehr, genauso wie wir nicht kommen und manchmal verdrehen wir die augen, innerlich nur, weil die ängste, die ihr uns entgegenschallt, so einfach zu enttarnen wären, aber ihr seid noch nicht weg vom juicy feed, alles, was wir anzubieten haben, ist wirklichkeit und selbstveranwortung, aber eben auch das gefühl, nicht opfer zu sein und wir beginnen, bücher über drogenentzug zu lesen, und wo wir standhaft und wo wir empathisch und wo wir vorbild sein sollen, und es wird etwas leichter mit euch und uns, denn immer noch stehen wir uns gegenüber und hinter euch, wir sehen sie in euren augen, wartet die armada von hetze und hass, sirenen des untergangs, und wir bieten euch an, die wirklichkeit anzuerkennen, in all dem, was sie ist und sein kann, und wir sagen euch, dass ihr natürlich gestalten könnt, niemand würde euch aufhalten in einer demokratie, engagement klingt in euren augen so anstrengend und ihr bockt. aber wir bleiben da.

Dorfallüren (1)


Ich war 3 oder 4 und die Welt
war mein,
der Kuhstall, in dem wir Zunge aßen,
duftete nach Kälbern und die Bauernfamilie
liebte mich, ohne nachzufragen.

Ich war 3 oder 4 und ständig
auf Achse,
der Bus, der um die Welt fuhr,
nahm mich öfter mit und setzte mich
erst spät zu Hause aus.

Ich war 3 oder 4 und unser Garten
hieß Eden,
zumindest begann am Rand, wo wir
spielten, die fremde Welt
aus Tannen, die mir in die Träume schlüpfte.

Ich bin 4 und 4 und suche sonntags
Kuhdungduft, Horizont und Äpfelbäume.
Das pittoreske Haus trägt Fliegengitter. Als ich
nach dem Weg frage,
antworten sie kaum.

Kleinpösna/Leipzig, 13.08.2023

Im Namen der Lüge, Michael Mutschler, 2020, Acryl auf Leinwand

Coronatrain


(c) Anja Mutschler, 2021

Zugfahren, das war: Beide Hände frei, während man, nicht zu schnell und nicht zu langsam, der neuen Gegenwart entgegengondelt.

Fährt man lange, sieht man das Wetter.

Fährt man sehr lange, sieht man die Jahreszeiten.

„Oh, schau, hier blüht es schon /// noch.“

Man konnte keine Tankstelle verpassen; kein Fahrrad überholt einen von rechts, manchmal gabs sogar was leckeres im Bordrestaurant, und wenn man keine Lust auf eine Verabredung hatte, sagte man: „sorry, Verspätung!“. Glaubte einem jeder. Der Zug war der freundliche Begleiter der Postmoderne,

anything goes, and anywhere.

Man übte sich in zivilisatorischer Toleranz, die Banane links, der Gameboy rechts und natürlich DER SCHNARCHER, das waren die kleinen Reiseaufreger, die man erzählte, während man heiter seine zerknitterte Blusen auf den Bügel hing.

Ich etwa habe mich umgesehen, Gedichte geschrieben und (bisweilen) gearbeitet.

Jetzt haben wir Klimawandel

und

Pandemie.

Man soll Zug fahren wollen, will es aber gar nicht.

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Ganz sicher


(c) Michael Mutschler, 2011.
Barszene. (c) Michael Mutschler, 2011.

Es ist ein lauter Abend, denn alle wollen reden. K. sagt zu dem Mann hinter dem Tresen, dass er festgestellt habe, dass es laute und leise Tage gibt, ungeachtet der Anzahl der Gäste. Ob ihm das auch aufgefallen sei? Er stimmt ihm zu, auch ihm käme es vor, als ob sich die Menschen manchmal die Worte sprichwörtlich aus dem Rachen zögen. An anderen krakeelten und schwatzten sie munter und laut, wie eben heute. Ganz so, überlegt der Barkeeper, als ob es kosmischen Schwingungen gäbe, die die Weltenlaune in die eine oder andere Richtung zieht. K. nimmt einen Schluck und sagt, dass er Kolleginnen habe, die sowas ja auf den Mond und so weiter schieben würden.  Manchmal höre er auch Leute, die  – sehr global, ha ha – vom globalen Stimmungsumschwung redeten und davon, wie der jetzt schon bis ins Büro oder die Familie spürbar sei. Und erst die Christen oder Esoteriker oder Anthri, Antopro, –  Anthroposophen, half der andere ihm – genau die, die hätten da sicher auch eine Erklärung. Aber K. meine doch etwas anderes, irgendetwas dazwischen. Aber, ganz sicher, da gibts irgendwas.

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Schweigen II


(c) Michael Mutschler, 1994.

Heiraten, hörte ich eine Frauenstimme fragen. Ihr wollt heiraten? Das Fragezeichen fällt fast hörbar auf den Tisch, der zwischen ihnen steht. Ich sitze im Zug und fahre nach Berlin. Gerade passieren wir einen Stausee, von dem ich mir jedes Mal vornehme, nachzusehen, wie er heißt und warum es ihn dort gibt. Nachdem man eine halbe Stunde an platten Felder vorbeigefahren ist – die man ignorieren muss, möchte man in Berlin noch einigermaßen wohlgemut aus dem Wagon steigen – ist dieser glitzernde, blaue, weite See, der immer in der Sonne zu liegen scheint, eine Irritation. Eine wohltuende Erscheinung, aber so erstaunlich wie ein fröhlicher Vater morgens im Kindergarten. Ja, höre ich die andere sagen, ihre Stimme ist tiefer, angenehm und ich stelle mir vor, dass sie dunkles, schönes Haar hat und einen herbstroten Lippenstift trägt. Wir heiraten!

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Reise. (c) Michael Mutschler, 2011.

Die Knattermöhre trägt mich durch blendend helle Gefrorenheit. Es ist Montag und ich fahre aus Leipzig nach Berlin. Die Bahn droht zu streiken, die Berliner S-Bahn tut es auf ihre Weise längst – so lasse ich mich von meinem grünen Ford auf einer fast leeren Autobahn gen Norden tragen. Dass ich dabei in umgekehrter Reihenfolge die Orte passiere, in denen ich gewohnt habe, wird mir erst klar, als ich am ersten vorbeirausche.

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