9.11.38 neu (etüde no1) // wie es eigentlich sein sollte


willkommen, geschätzt, geachtet, verstanden, aufgenommen, wahrgenommen, wärme, akzeptanz, respekt, safe space, zugewandt, zugehört, angehört, umarmt, an die hand genommen, getröstet, zusammengeführt, vereint, in ruhe gelassen, begrüßt, nicht müssen, können, wollen, sich äußern, reden dürfen, singen, an der hand halten, küssen, liebe, wahrgenommen, die bühne bieten, den vortritt lassen, verneigen, tribut zollen, applaudieren, die hand reichen, brüderlich umarmen, verschwestern, heiraten, herumalbern, der Kumpel sein, BFF, lachen, gackern, glucksen, schnattern, hineinlassen, die tür öffnen, einladen, gesellschaft, geselligkeit, verbinden, lernen, gemeinsam denken, weiterkommen, stimmt sagen, du hast recht sagen, entschuldigung sagen, danke sagen, bitte sagen, interesse zeigen, das eigene und das fremde, versöhnen, integrieren, interagieren, kommunizieren, gehen, herumstehen, nebeneinander, miteinander, aufeinander, durcheinander, fröhliches chaos, vielfalt, bunt, erkennen, neugier, offenheit, sich erkennen. sich im anderen erkennen. dürfen.

all das ist dieser tag. all das sollte er sein.

Dorfallüren (1)


Ich war 3 oder 4 und die Welt
war mein,
der Kuhstall, in dem wir Zunge aßen,
duftete nach Kälbern und die Bauernfamilie
liebte mich, ohne nachzufragen.

Ich war 3 oder 4 und ständig
auf Achse,
der Bus, der um die Welt fuhr,
nahm mich öfter mit und setzte mich
erst spät zu Hause aus.

Ich war 3 oder 4 und unser Garten
hieß Eden,
zumindest begann am Rand, wo wir
spielten, die fremde Welt
aus Tannen, die mir in die Träume schlüpfte.

Ich bin 4 und 4 und suche sonntags
Kuhdungduft, Horizont und Äpfelbäume.
Das pittoreske Haus trägt Fliegengitter. Als ich
nach dem Weg frage,
antworten sie kaum.

Kleinpösna/Leipzig, 13.08.2023

Weiblich, misogyn – why???


Rüdiger und seine hohen Bücherregale, aus denen

drei Kinder fallen, wenn er

– Gin Tonic mit Gurke und Bambusstrohhalm –

in der Hand, den neuesten ZEIT-Bestseller ins Regal

und seine Geliebte einbe-stellt.

Seinetwegen?

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Insel-Du(de)


Letzter Akt. Fata Morgana nennst du diese letzte Insel. Gerade erst bist du fast untergegangen, denn unter dem Weg zum Gipfel stapelte sich bloß das Meer.

Die Hoffnung des Menschen will nicht aufhören zu schlagen, also gehst du wieder los. Ein Aufziehmännchen auf dem Weg zum Untergang. „Lass dich nicht überraschen!“ „Lass dich überraschen!“ „Geh weg.“ „Bleib hier.“ „Geh doch, wohin der Pfeffer wächst.“ „Bleib bei dir.“ „Wer bist du?“ „Ich kann nicht denken.“ „Fühlst du mich?“ „Hier bin ich.“ „Ich bin nie da gewesen.“ Das Maschinengewehr der Gedanken erschlägt ihresgleichen.

Unversehens ein klarer Moment. Von deiner Fata Morgana aus siehst du Aurora auf dem Wasser schweben.

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Kriegsgesellschaft


Keine Ahnung, aber: Sind wir nicht längst eine Kriegsgesellschaft? Definitionsvorschlag: eine Gesellschaft, deren Handeln auf die Abwehr akuter kriegerischer Handlungen orientiert ist, ist eine Kriegsgesellschaft.

Ich stelle mir vor, wie die Kriegsgesellschaft im Zweiten Weltkrieg aussah. Auch dort herrschte an Ort A so etwas wie Alltag, während in Ort B Bomben fielen. Ich spreche hier nicht von Politik sondern von der seelischen Begleitmusik jeden Tages, an dem wir aufstehen, unsere Arbeiten verrichten und wieder schlafen gehen. Jener Ort B liegt derzeit außerhalb unseres Territoriums, aber die räumliche Nähe, ich habe darüber schon gesprochen (20blue hour #12, Es gibt Nichts Gutes an einem Krieg), die geistige Nähe dieser Menschen, die noch vor ein paar Monaten ein Leben führte, lässt mich und viele, mit denen ich spreche, die Not spüren. Die Ukraine, das sind unsere Nachbarn: wenn es ihnen nicht gut geht, spätestens dann, sind sie nicht mehr irgendwer.

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Pandemie-Tagebuch (1): In der Zeitspalte


Nein, ich bin nicht in Quarantäne. Home Office mache ich seit 3 Monaten durchgängig. Meine Kinder sind groß genug, mein berufliches Leben läuft nahezu normal weiter (bis auf das ausbleibende Neugeschäft). Meine Verwandtschaft und alle Freunde sind (noch) gesund. Es gibt also keinen offensichtlichen Grund für dieses Tagebuch. 

Eng und weit zugleich – meine Zeitspalte

Allerdings empfinde ich diese Zeit als extrem, vielleicht die extremste, die mir in meinem verwöhnten, friedensreichen, wohlstandsverwöhnten Dasein, in dem ich genug Momente zum Jammern, Klagen und mich selbst Bedauern gefunden habe, passiert ist.
Ich komme mir wie in zwei Hälften zerschnitten vor: Funktional, mich und meine Liebsten rettend-schützend, kurz vor der Panik, einerseits. Visionär, träumend, hoffend, entspannt wie selten auf der anderen Seite.

Gleichzeitig aus der Zeit gefallen und in eine Zeit hineingezwungen.

Ich sitze wie in einer Zeitspalte.

Wie ich hinein gekommen bin, weiß ich nicht. Ich bin unversehrt, habe aber wenig Spielraum.

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Ermächtigung – warum ich Gauck-Fan bin


1971 stellte Joseph Beuys für eine seiner politischen Kunstaktionen 10.000 Plastiktüten her, auf denen er Demokratie und Parteienstaat miteinander verglich.
(c) Foto: Dr. Heinz Schmidt-Bachem Andreas Waidosch auf einestages.spiegel.de (Kulturgut Plastiktüte: „Die Abschlepphilfe“.)

Von mir selbst habe ich immer behauptet, ein freiheitlich denkender Mensch zu sein. Jemand, der gegen Bevormundung, aber auch für Selbstverantwortung einsteht. Ich habe trotzdem nie die FDP gewählt, ehrlich gesagt, bin ich auch nie auf den Gedanken gekommen. Und das liegt nicht nur am Personal. Ich hatte in letzter Zeit auch angefangen, mich damit auseinanderzusetzen, ob ich eines Tages nicht mehr werde wählen gehen können. Für eine Politikwissenschaftlerin ein starkes Stück und ehrlich gesagt, habe ich mich ziemlich vor dem Moment gefürchtet, da ich mir eingestehen würde, dass meine Beuys-Plastiktüte aktueller ist, als mir lieb ist (s.o.).

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LoF: 6 months later



Mein diesjähriger Weihnachtshit von der Compilation „About Christmas“, erschienen bei DevilDuck.

Facebook ist der Geliebte. Ist es vorbei, hört man nicht auf, sich für ihn zu interessieren. Man interpretiert die Informationen über den Verflossenen lediglich anders. Man liest und hört alles, was man zu ihm in die Hände kriegt. Ignoriert mit Macht jede Sentimentalität. Schürzt stattdessen verächtlich die Lippen oder murmelt mit fester Stimme: „Jaja! Wusst ichs doch.“ Hat einer, den man mag, was auf Facebook gelesen und er erzählt einem davon, strafft man die Schultern und man erzählt die Geschichte des Entkommen-Seins:

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Rückwärts


Reise. (c) Michael Mutschler, 2011.

Die Knattermöhre trägt mich durch blendend helle Gefrorenheit. Es ist Montag und ich fahre aus Leipzig nach Berlin. Die Bahn droht zu streiken, die Berliner S-Bahn tut es auf ihre Weise längst – so lasse ich mich von meinem grünen Ford auf einer fast leeren Autobahn gen Norden tragen. Dass ich dabei in umgekehrter Reihenfolge die Orte passiere, in denen ich gewohnt habe, wird mir erst klar, als ich am ersten vorbeirausche.

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Der Rabe hackt am Panzer …


 

Raben. (c) Michael Mutschler, 2011
Raben. (c) Michael Mutschler, 2011

Eine analytische Haltung ist etwas wunderbares. Sie kontrolliert ein Ich, das ständig überschäumen möchte, sie biegt es zurecht für den sozialen Gebrauch und verleiht Autorität, wo vielleicht nur Hilflosigkeit wäre. Sie ordnet, gibt den Dingen Struktur und verleiht Selbstkontrolle. Eine analytische Haltung ist das Gegenteil zu der assoziativen, die Peter Wawerzinek in seinem Buch Rabenliebe perfektioniert hat, und die kein Stein auf dem anderen lässt.

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