Coronatrain


(c) Anja Mutschler, 2021

Zugfahren, das war: Beide Hände frei, während man, nicht zu schnell und nicht zu langsam, der neuen Gegenwart entgegengondelt.

Fährt man lange, sieht man das Wetter.

Fährt man sehr lange, sieht man die Jahreszeiten.

„Oh, schau, hier blüht es schon /// noch.“

Man konnte keine Tankstelle verpassen; kein Fahrrad überholt einen von rechts, manchmal gabs sogar was leckeres im Bordrestaurant, und wenn man keine Lust auf eine Verabredung hatte, sagte man: „sorry, Verspätung!“. Glaubte einem jeder. Der Zug war der freundliche Begleiter der Postmoderne,

anything goes, and anywhere.

Man übte sich in zivilisatorischer Toleranz, die Banane links, der Gameboy rechts und natürlich DER SCHNARCHER, das waren die kleinen Reiseaufreger, die man erzählte, während man heiter seine zerknitterte Blusen auf den Bügel hing.

Ich etwa habe mich umgesehen, Gedichte geschrieben und (bisweilen) gearbeitet.

Jetzt haben wir Klimawandel

und

Pandemie.

Man soll Zug fahren wollen, will es aber gar nicht.

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Schweigen II


(c) Michael Mutschler, 1994.

Heiraten, hörte ich eine Frauenstimme fragen. Ihr wollt heiraten? Das Fragezeichen fällt fast hörbar auf den Tisch, der zwischen ihnen steht. Ich sitze im Zug und fahre nach Berlin. Gerade passieren wir einen Stausee, von dem ich mir jedes Mal vornehme, nachzusehen, wie er heißt und warum es ihn dort gibt. Nachdem man eine halbe Stunde an platten Felder vorbeigefahren ist – die man ignorieren muss, möchte man in Berlin noch einigermaßen wohlgemut aus dem Wagon steigen – ist dieser glitzernde, blaue, weite See, der immer in der Sonne zu liegen scheint, eine Irritation. Eine wohltuende Erscheinung, aber so erstaunlich wie ein fröhlicher Vater morgens im Kindergarten. Ja, höre ich die andere sagen, ihre Stimme ist tiefer, angenehm und ich stelle mir vor, dass sie dunkles, schönes Haar hat und einen herbstroten Lippenstift trägt. Wir heiraten!

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