Mauern


Deine Mauern sind dick wie ein Extraleben. Mehrfach schon habe ich den Meißel angesetzt. Du wehrst ihn lässig ab, hast es längst erwartet. Dein Lächeln ist dein Tor zur Seele, deine Mundwinkel steuern den Zutritt. Nun halte ich das Steigbügel in den Händen,  aber ich zeige es dir, denn reden können wir über alles. Du seufzt und sagst, ich weiß, und zeigst mir die Route. Das Ende sehe ich nicht, Nebel schwimmt um dein Gemüt. Ich lege das Gerät beiseite und behalte meinen BH an.

Druck im Kessel


Zwischen gesund und tot liegt

im falschen Moment auf die Straße gegangen sein,

ein Flugzeug, das vom Himmel fällt

sich selbst fremd sein.

Zwischen gesund und tot liegt

der trübe Blick deiner Ärztin

ein falsches Date

eine Kettensäge.

Zwischen gesund und tot liegt

die Zigarette gegen alle Wahrscheinlichkeiten

Sehnsucht nach dem Falschen

Angst vor der eigenen Courage.

Zwischen gesund und tot liegt

aus einer Krebsfamilie kommen

aus einer neurotischen Familie kommen

aus gar keiner Familie kommen.

Zwischen gesund und tot liegt

ein Stein, der dich zum Abgrund zieht

ein Amoklauf

immer nur auf sich zu hören.

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(c) Anja Mutschler, im November 2023

Don’t de-humanize!


Das Schöne an den Menschen ist

ihre

Fähigkeit, zu verzeihen. Einfach so. Weil die Zeit gekommen ist, weil wir

der Angelegenheit
einen weiteren Gedanken schenkten oder

sie irgendwann vergaßen.

Ausgeschlossen von dieser Routine des freien Geistes sind

„Bluts“verwandte
Nationalisten
Eiferer und andere, die vergessen haben,

ihren Gedanken in alle Richtungen zu

folgen.

Die Unbeschwerde eines neuen Tages kennen sie nicht. Auch nicht die Freude der Wiedervereinigung. Oder die Erleichterung der Einsicht.

Es ist schwer, sich mit einem Rache-Roboter zu einigen. Es ist unmöglich zwischen zwei Rache-Robotern. Rache ist

heiß,

sie ist süß und sie macht blind.

Der Sieg (über etwas oder jemanden) gilt als Gipfel der Menschheit. Mir scheint: das Ringen, nicht siegen zu müssen, ist der wahre

Triumph.

Don’t de-humanize!

Leipzig, im Oktober 2023 (c) Anja Mutschler

Dorfallüren (1)


Ich war 3 oder 4 und die Welt
war mein,
der Kuhstall, in dem wir Zunge aßen,
duftete nach Kälbern und die Bauernfamilie
liebte mich, ohne nachzufragen.

Ich war 3 oder 4 und ständig
auf Achse,
der Bus, der um die Welt fuhr,
nahm mich öfter mit und setzte mich
erst spät zu Hause aus.

Ich war 3 oder 4 und unser Garten
hieß Eden,
zumindest begann am Rand, wo wir
spielten, die fremde Welt
aus Tannen, die mir in die Träume schlüpfte.

Ich bin 4 und 4 und suche sonntags
Kuhdungduft, Horizont und Äpfelbäume.
Das pittoreske Haus trägt Fliegengitter. Als ich
nach dem Weg frage,
antworten sie kaum.

Kleinpösna/Leipzig, 13.08.2023

Weiblich, misogyn – why???


Rüdiger und seine hohen Bücherregale, aus denen

drei Kinder fallen, wenn er

– Gin Tonic mit Gurke und Bambusstrohhalm –

in der Hand, den neuesten ZEIT-Bestseller ins Regal

und seine Geliebte einbe-stellt.

Seinetwegen?

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Kontaktanzeige


Würde ich eine Kontaktanzeige schreiben, in einer Zeitschrift aus Altpapier, lautete sie wie folgt:

Sie

schön, aber etwas rund,

klug, aber etwas sentimental,

kulturinteressiert, aber etwas banal,

gesund, aber etwas krank,

aktiv, aber im Prinzip lazy,

mag Tiere, aber nur draußen

mag arbeiten, aber mit Pausen

verbindlich, aber (supergern) crazy

Zwei große Kinder, noch nicht ganz erwachsen

mag Pflanzen, die aber bei ihr nicht wachsen

schreiben ist ihr Leben, kann aber auch Excel

eine Nomadin,

aber im Wechsel

mit der Präsenz der Wartenden, bin

ich auf der Suche nach dem anderen Ich,

das zärtlich

ist und bisweilen geduldig

wobei ich sagen muss, wenns klappte, wär mir gleich – tja –

mulmig.

P. S. schwimmen ja, joggen nein

(Erste Fragmente sind auch beim Schwimmen entstanden)

Scherbentext


Das Leben, wenn es alt genug ist, ist ein Scherbenhaufen. Oder ein Glascontainer, in dem donnernd die Form zerschellt. Wir fürchten das Neue, weil wir uns fragen, aus wie vielen Scherben es dieses Mal besteht. Nur zwei? Das ginge. Aber 2000? Nicht noch einmal.

Gibt es unwiederbringliches Glück? Ist man jung, fragt man sich das, in fester Erwartung, ein Nein zu hören. Nachdem man tausend Nächte den gleichen Traum hat, bei dem man immer an der gleichen Klippe zerschellt, ahnt man, dass es doch geht: falsch abzubiegen.

Wir werden zum Fakir unseres Schicksals, laufen nebeinander über Scherben. Wir versuchen, unsere Scherben nicht miteinander zu vergleichen. Wir bewundern die, die sich aus Scherben ein neues Haus bauen. Oder ein Fahrrad.

Wir werden alt, bis wir verstehen, dass unser Leben aus Scherben besteht, immer schon, dass Vergangenheit schmerzt, wenn sie gut war.

Aus uns fallen Gedanken, aber niemals Taten. Taten brauchen einen Ruck, eine Entscheidung, Gedanken nur unser Sehnen.

Was wir verwechseln: Wir denken, wir denken, wenn wir tun, und umgekehrt. Wir denken, wenn wir tun, tut es mehr weh, als wenn wir denken.

Es gibt keinen größeren Irrtum als den, dass man sich selbst nicht der größte Feind sei. Es gibt keinen größeren Feind als man selbst. Weil wir nur die Scherben zählen. Und nicht die Liebe, die sie verursacht hat.

Bild von dream.ai

Insel-Du(de)


Letzter Akt. Fata Morgana nennst du diese letzte Insel. Gerade erst bist du fast untergegangen, denn unter dem Weg zum Gipfel stapelte sich bloß das Meer.

Die Hoffnung des Menschen will nicht aufhören zu schlagen, also gehst du wieder los. Ein Aufziehmännchen auf dem Weg zum Untergang. „Lass dich nicht überraschen!“ „Lass dich überraschen!“ „Geh weg.“ „Bleib hier.“ „Geh doch, wohin der Pfeffer wächst.“ „Bleib bei dir.“ „Wer bist du?“ „Ich kann nicht denken.“ „Fühlst du mich?“ „Hier bin ich.“ „Ich bin nie da gewesen.“ Das Maschinengewehr der Gedanken erschlägt ihresgleichen.

Unversehens ein klarer Moment. Von deiner Fata Morgana aus siehst du Aurora auf dem Wasser schweben.

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