Vorwärtsbewegung ins Nirgendwo / Es gibt nichts Gutes an einem Krieg


im März 2022 entstanden.

Brüder, die sich nun hassen müssen. Ein aufgeklappter Rechner, eine zerknüllte Wolldecke und eine Rakete, wo vor Stunden noch Menschen saßen. Der neue Staub wirft ihre Schatten auf das maschinengewebte Sofa. Hässlich-gelb quillt der Schaumstoff daraus, er ist aus Zynismus gemacht.

Es gibt nichts Gutes an einem Krieg.

Im Klopapierbunker quaken die westlichen Seelen, getroffen vom Schicksal derjenigen, die verrecken. Eine Vorwärtsbewegung ins Nirgendwo, während die anderen entschlossen ihre Taschen packen, um an die neue Front zu eilen.

Fluchthelferin. Söldner. Journalist. Politikerin. Ein Menschenwall gegen den Zerfall der Menschlichkeit. Hunderttausende auf den Straßen, Demokratie wagen und in den Himmel schauen, wo 1.300 km ostwärts Flieger jagen.

Menschenschicksale, frisch gepresst aus den Annalen des American Way of Life, sind auf der Flucht: Grafiker, Programmiererin, Sportler und Influencerin. Beim kollektiven Begreifen auf allen tausend Kanälen springen die Geschichtszahlen durcheinander. Es ist kalt. 1943. Sudetenland. Annexion. Cyberangriffe. NATO. 1938. Es ist kalt. Kiew. Stalingrad. Wir sagen jetzt Kviw. Durcheinandersprechchöre mit Fluchtpunkt Sieg. Für die Demokratie, die jetzt wieder Westen heißt, auch wenn sie im Osten verteidigt worden ist.

Selenskiyj ist jetzt schon ein Märtyrer und Putin hat jetzt schon verloren. Wertemauern werden hochgezogen.

Es gibt nichts Gutes an einem Krieg.

Es herrscht Krieg, weil ein kleiner Mann mit Maskengesicht aus dem Diktatorenautomaten tödlich beleidigt ist vom Geschichtsverlauf. Wir fassen uns an den Kopf und sehen uns um. Unser Sofa ist aus Plüsch oder Leder, Samt oder Teflon, gewebt, geblümt, gestreift, mit Wolle oder ohne. Manche mit Rotweinfleck, zeugen vom besseren Leben. Wir sitzen und glotzen und Mariupol stirbt derweil.

Es gibt nichts Gutes an einem Krieg.

Fliehende ohne Sprache und Blick stranden zu Tausenden und sollen Danke sagen, obwohl sie nie wegwollten. Stille trotz tausender Menschen in der Ankunftshalle. Das neue Schweigen legt sich wie Staub in ukrainische Kehlen. Aus den Ecken quellen listig die Menschenhändler, auch sie hat unser System mit ernährt.

Es gibt nichts Gutes an einem Krieg.

Das Haus mit dem Sofa steht nicht mehr. Der russische Bruder weint beim Schießen.

Kriegsgesellschaft


Keine Ahnung, aber: Sind wir nicht längst eine Kriegsgesellschaft? Definitionsvorschlag: eine Gesellschaft, deren Handeln auf die Abwehr akuter kriegerischer Handlungen orientiert ist, ist eine Kriegsgesellschaft.

Ich stelle mir vor, wie die Kriegsgesellschaft im Zweiten Weltkrieg aussah. Auch dort herrschte an Ort A so etwas wie Alltag, während in Ort B Bomben fielen. Ich spreche hier nicht von Politik sondern von der seelischen Begleitmusik jeden Tages, an dem wir aufstehen, unsere Arbeiten verrichten und wieder schlafen gehen. Jener Ort B liegt derzeit außerhalb unseres Territoriums, aber die räumliche Nähe, ich habe darüber schon gesprochen (20blue hour #12, Es gibt Nichts Gutes an einem Krieg), die geistige Nähe dieser Menschen, die noch vor ein paar Monaten ein Leben führte, lässt mich und viele, mit denen ich spreche, die Not spüren. Die Ukraine, das sind unsere Nachbarn: wenn es ihnen nicht gut geht, spätestens dann, sind sie nicht mehr irgendwer.

Sind wir eine Kriegsgesellschaft? Vielleicht wäre es leichter, sich das einzugestehen. Es wäre klarer, zu sagen: Normalität war gestern, wir können nicht wissen, was morgen ist. Seid wachsam! Sorgt dafür, dass ihr stark seid, kümmert euch nicht um Nebensächliches, wir brauchen jede und jeden von euch in der besten Verfassung. Haltet euer Geld zusammen. Kümmert euch um euren Spirit. Wer ist nicht beeindruckt vom Mut der Ukrainer:innen, ihrer klaren Kühnheit? Der Gegner steht fest, und auch das Ziel. In grimmiger Entschiedenheit bildet die Kriegsgesellschaft das Schild um die Wehrlosen.

Eine Kriegsgesellschaft zu sein bedeutet das nicht: Die Grausamkeit wird nicht beiseite geschoben, die Wahrheit ist ein frischer Wind? Seid wach und edgy, seid bereit.

Wenn es so ist, dann stirbt in der Kriegsgesellschaft: die Banalität und das Wohlstandsversprechen, die Lässigkeit und Egozentrismus, es stirbt das lineare Denken und die Höflichkeit, es sterben Bankkonten und Rentenpläne, Steuersparmodelle und Familienplanung, es stirbt die Achtsamkeit und Lüge, Pazifismus und Hoffnung. Es stirbt, wer nicht wachsam ist.

Das eine ist, zu gewinnen, das andere ist, die moralisch-geistige Macht zu halten. Man möchte meinen, das ist der schwierigere Part, und viele tausend Tote später wird bekannt sein, was vor dem Krieg schon Tatsachen waren. Eine Kriegsgesellschaft zu sein, bedeutet wohl auch, die Sinnlosigkeit des Krieges anzuerkennen. Der Realismus ist zurück und er fackelt nicht lange: es kommt auf den Tisch, was längst galt, aber verborgen war. Ist die Ost-Ukraine „verloren“? Vielleicht. Dachte Putin, die ganze Ukraine sei sein Russland? Wahrscheinlich.

Eine Kriegsgesellschaft ist auf alle Fälle ein Wir (gegen die). Aber: Wer sind wir? Deutschland – Ost und West, oder Europa? Oder der Westen? Darüber sollten wir sprechen: wer wir sind. Wer wir sein können. Ohne den materiellen Schrott, der uns erlaubt, in Watte zu leben. Die Watte ist gesponnener Zucker, immer zu süß, im Überfluss tödlich. Zuckerwatte steht übrigens nur Kindern gut. Die Infantilisierung des Angestellten ist die schlimmste Wirkkung des Konsumismus. Man denkt, man sei erwachsen, wenn man sagen dürfe, was man wolle, und qua Amt kommen keine Widerworte (in Zeiten des „Fachkräftemangels“ schon gar nicht). Sich selbst moralisch täglich neu zu justieren, steht in keinem Arbeitsvertrag, aber doch im contract social, den wir mit der Geburt unterschrieben haben. Du kommst nichts ins Gefängnis dafür, klar, aber Klarheit in Kriegszeiten rettet dein und unser Leben.

Also: Wacht auf, seht hin, versteckt euch nicht hinter euren Gehaltszetteln, euren Smartphones, in Online-Meetings, auf Messen, beim Rasenmähen (immer schön um das Trampolin herum!), jammernd an der Zapfsäule, im Einkaufsladen, vor der Urlaubsplanung. Vernunft ist kein Emblem, das sich einmal erarbeitet, tragen lässt. Vernunft ist tägliche Arbeit. Und, nein, quer gedacht, ist nicht zu Ende gedacht. Auch Narzissmus rettet keine Leben, am Ende nicht einmal dein eigenes – denn: wer mag schon Narzissten? Im Bunker ist kein Platz frei für sie.

Seid radikal zu euch, um uns zu retten.

Eine Kriegsgesellschaft ist immer radikal, ein Fehler in Gedanke und Tat kann tödlich sein. Living on the edge, auf Messersschneide leben, wurde uns abtrainiert. Quizfrage: Wer darf grimmig und klar aus der Wäsche schauen, ohne dass ihn Freunde oder Kolleginnen „mal zur Seite nehmen“?

Das untrainierte Heer erkennen wir in Kriegszeiten an ihrem unverbindlichen Lächeln.

Ist deshalb alles verloren? Wenn wir uns nicht am Riemen reißen, vielleicht. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg: Mutter Erde rüstet sich schon, bereit uns auszuspeien, zurückzuschicken in ihren Schlund. Fruchtbarer Dünger für den Regenwald, wenigstens das. Wollen wir das? Seid wachsam und edgy!

Die Kriegsgesellschaft gebiert: Nationen, Kinder, Tatkraft, Ehrlichkeit, Frugalismus. Und: den Moment.

Denn wer weiß, was morgen ist?

Versuche, über den Krieg zu sprechen (1)


13-3-2022 19-20 Uhr – Transkript des ersten Intro-Versuchs, korrigiert und ergänzt

Es gibt nichts Gutes an einem Krieg. Im Grunde ist dieser Podcast damit schon zu Ende. Denn über alles, über das ich jetzt sprechen werde in der kommenden blauen Stunde, 20blue hour. Über alles, das ich sprechen kann, möchte ich gar nicht sprechen. Der 24. Februar 2022 ist [00:00:30] für viele ein einschneidendes Erlebnis. Eines ohne Vergleich. Aber für dienjenigen, über die wir sprechen, Und die fliehenden, die sterbenden, die traumatisierten Personen, Personen, die fliehen, auch nach Deutschland, die wir in Deutschland willkommen heißen wollen. Zum Glück. DMenschen, die [00:01:00] aber besser gar nicht weggehen wollten sollten: Diesen Personen hilft kein Podcast. Warum habe ich mich trotzdem dafür entschieden? Na ja. Wir sind alle unseren Möglichkeiten unterworfen. Wir sind alle dem Leben [00:01:30] unterworfen. Auch meines geht weiter. Der Podcast ist ein fester Teil davon. Nichts dazu zu sagen – das kann ich nicht. Dieser Krieg legt sich in alle Ritzen meines Denken und Handelns.

Viele Einige sagen jetzt: Es hilft nichts, wenn ich nichts tue, es hilft nichts, wenn ich nicht heize, es hilft nichts, wenn ich nicht fühle, es hilft nichts, wenn ich nicht lache. Ich finde das nicht so einfach. Ich habe Zweifel, Zweifel, über etwas anderes zu sprechen, aber auch Zweifel, über diesen Krieg [00:02:00] in der Ukraine zu sprechen. Begonnen von Wladimir Putin. Einem, wie wir jetzt wissen ganz abscheulichen Menschen. Der außerhalb unserer Werte, außerhalb des Völkerrechts, außerhalb jeden Verständnisses handelt. Und er handelt weiter. [00:02:30] Denn ganz offensichtlich kann er nicht aufhören, weil er nicht aufgeben kann, weil er nicht verlieren kann, weil er nicht einsehen kann. Weil er muss.

Und sein Müssen kostet viele Menschen ihr Leben, ihr Heim, ihre Hoffnung, ihre Zukunft. Ja, ich bin unfassbar wütend. Und zugleich sehr hilflos. Denn jetzt sitze ich hier in meinem [00:03:00] warmen, ich heize wenig, aber doch ein wenig, in meinem warmen, schönen Zimmer zu Hause. Und überlege, mit wem ich, mit wem ich sprechen kann. Ich kenne Menschen, die direkt betroffen sind von diesem Krieg, Menschen, die hier wohnen, aber dort Verwandte haben: Freunde und Freundinnen. Menschen, [00:03:30] die sie lieben. Menschen, um die sie sich jetzt sorgen. Ihre Unruhe, ihre Trauer vermag ich mir gar nicht vorzustellen. Und wenn ich jetzt sage, ich bin froh, dann bin ich natürlich nicht froh. Wie soll ich froh sein?

Aber ich bin erleichtert, dass wir, es ist der 13. März 2022, keine [00:04:00] laute Debatte haben in Deutschland über die Aufnahme von geflüchteten Personen aus der Ukraine. Wenigstens das. Aber es gibt nichts Gutes an einem Krieg. Und so wird alles, über das ich jetzt sprechen kann, über das ich sprechen muss in dieser nächsten Stunde etwas sein, über das ich nicht sprechen möchte. [00:04:30] Ich habe mir vorgenommen, mit Menschen zu sprechen, die mehr wissen als ich. Das mache ich immer, das zeichnet diesen Podcast aus, der im Übrigen ein Jahr wird jetzt (und ihr habt vielleicht am neuen Jingle schon gehört, wir haben, und das ist schon länger beschlossen gewesen, ihm ein ein [00:05:00] kleines Upgrade gegönnt. Und ich bin Peter Lonzek, dem Sprecher und Lukas Dreher, dem Komponisten, außerordentlich dankbar, dass sie einen so wunderschönen musikalisch sprachlichen Rahmen schaffen für diese blaue Stunde.) Ja, ich habe mir vorgenommen, in dieser hour zu sprechen mit Menschen, die [00:05:30] mehr wissen, aber auch mit denen, die, die fühlen die gerade nur fühlen, weil sie betroffen sind. Direkt ins Herz getroffen. Mit Sack und Pack, was wahrscheinlich oft nicht mehr als ein, zwei Koffer sind, fliehen müssen und das betrifft Menschen aus der Ukraine, und das betrifft Russinnen und Russen, Belarussinnen [00:06:00] und Belarussen, die fliehen vor diesen autokratischen, ich möchte beinahe sagen terroristischen Regimes. Und die auch alles zurücklassen müssen, ihre Familie zuvorderst. Ich möchte auch sprechen mit Menschen, die jetzt Medien machen, die für uns dort [00:06:30] sind, die ihr Leben riskieren, um uns wissen zu lassen, was passiert. Und ich möchte schauen, ob ich jemanden finde, der, der Hoffnung gibt. Der oder die mir und uns erklären [00:07:00] kann, worauf wir hoffen können. Und wenn wir keine Hoffnung finden. Dann hoffentlich zumindest, die grösstmögliche die größtmögliche Einigkeit darüber: Dass es nichts Gutes gibt an einem Krieg. Wenigstens [00:07:30] das. Ja, ich wünsche euch. Nun folgt mir oder folgt mir nicht? Nein. Okay.

Verwendung im Podcast: Nein.

Krieg: Lähmung


Rennen wollen, aber nicht wissen wohin. Ausschalten wollen, aber nicht wissen, was sonst einschalten. Reden wollen, aber nicht wissen, worüber noch. Lesen wollen, aber nicht wissen, wie man die Gedanken einfängt. Schlafen wollen.

Helfen wollen, aber nicht wissen, wie.

(c) Anja Mutschler, 13.3.2022

Bild: Michael Mutschler, 2015, „Ein letztes Leben“, Acryl auf Leinwand

Ich und Du im Krieg


Die Phase der Differenzierung hat begonnen.

Ich bin irgendwie froh, weil mir Militärstrategien nichts sagen, denn

es

gibt

nichts Gutes

an einem Krieg.

Diese Art von Krieg auch noch, der tollkühn, hannibalhaft rüberkommen soll und wie eine Persiflage eines Kriegsfilmes umgesetzt wird.

Indes: die Opfer sind echt. Tot. Traumatisiert.

Es sind Ich und Du, die nach einem sonnigen Tag in der klirrend kalten Apokalypse aufwachen, keine Pause, Stop, Nochmal. Kein Film.

Dummheit und Zufall können jetzt alles entscheiden, auch den ultimativen Krieg. Aber wahrscheinlich war das schon immer so. Wenn ich mir die Militärstrategen so ansehe, sind die auf alle Fälle aus einem anderen Film.

Ständig diese Ungleichzeitigkeiten. Diese Art Krieg in Europa? Welche Worte wir jetzt wieder aus einer staubigen Kiste holen, plötzlich wieder mit Bedeutung: Natofall. Bodentruppen. Artellerie. Schreibt man das so? Sind unsere demokratischen Gesellschaften nicht längst in einer ganz anderen Zeit/Sinn/Seinzone angelangt?

Sterben fürs Vaterland. Ey, wieso Vater???

Blutszoll macht auch nicht mehr so richtig Sinn, der alte Spruch: Frauen menstruieren, Männer ziehen in den Krieg, wirft mehr Fragen auf als Antworten.

Dieser ganze Akt, die Vergewaltigung Europas (hey, Zeus) ist so alt, ein widerliches Aufbäumen einer alten Welt, in der der Zynische, der Gewaltvolle, der Absolute Recht bekommt. (Fußnote: Über das Kuschen werden wir sprechen, Deutschlands Gedächtnis und Schmerz bieten keine Lösung. Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut. Die erste Generation, die zivilen Ungehorsam verstanden hat.)

Die „Zivilist:innen“ auf alle Fälle sind Lichtjahre weiter.

„Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“, wird zu: „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner weiß, wie das geht.“

(c) Anja Mutschler, 11.3.2022

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