Pandemie-Tagebuch (2): Panther


Wochen in der Zeitspalte liegt hinter mir. J’en ai marre – ich habe genug!

Meine Wohnung ist aufgeräumt und meine Ablage fast leer. Meine Kinder sind versorgt und senden Alles-OK-Signale. Mein innerer Akku ist aufgeladen, ich habe viele Leute angerufen, bei denen ich mich längst mal wieder melden wollte. Immer öfter höre ich gute Musik statt noch eine weitere Corona-Sendung im Radio. Ich vermisse mein Klavier, mache Karaoke in der Küche und höre Igor Levit auf Twitter, Jonathan Safran Foer auf Spiegel, Andrew Bird auf Facebook. Ich schaue eine geniale Dreigroschenoper-Adaption und fühle mich ergriffen von der Freud-Serie. Das ist bedeutsam zu erwähnen, weil es ein Altes (sic!) Ego gab, in denen ich literarisch schrieb und kulturell fühlte, das ich seit einigen Jahren versuche, wieder auszugraben.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Ruhetaste der Welt bei mir zu einer echten Re-Aktivierung tieferer Energien führt, habe ich tiefes Mitgefühl mit allen Eltern von Kindern unter zehn Jahren. Ich glaube, dass der Traum vom Home Office gerade zum Trauma werden kann.

Das Orchester der Vögel vor meinem Fenster toppt die Lautstärke des Verkehrs längst. Ich sende häufig Liebesbotschaften an meine Freundinnen und Freunde – es ist mir dabei ziemlich egal, ob sie mich pathetisch finden oder nicht:

 

Überhaupt, traue ich mir große Gefühlswellen zu. Und die Systemfrage. Mit ein paar revolutionsorientierten Freunden diskutiere ich den Unter- und Wiederaufgang der Menschheit Post-Corona und finde beim Scrollen durch die Sozialen Netzwerke erstaunlich, wie viele Menschen froh über die Entschleunigung sind. Warum, noch mal, hetzen wir so? In einem der Gespräche sage ich, dass ich mich mental auch für kritischere Szenarien gewappnet sehe, weil ich die Anti-Bräsigkeit und das Alles-auf-den-Kopf-Stellen, das Sezieren am offenen Herzen der Menschheit eine interessante Situation finde – keine Schwammigkeit mehr liegt über den Systemen. Glasklar sehen wir, wohin Raubtierkapitalismus führt (Maskenklau auf Flughäfen) und wie geil so eine soziale Marktwirtschaft ist, in der wir Deutschen leben. Andererseits – eben lebe ich in Deutschland mit seinem super Gesundheitssystem und den etwas hysterischen, aber durchaus patenten Expertenchören. Ich stehe in der warmen Küche meiner gemütlichen Wohnung, habe Klopapier, Nudeln und so weiter. Die Corona-Systemkrise ist bei mir noch relativ weit weg. Noch.

Noch bin ich gesund. Noch ist meine Familie gesund und meine Freund:innen. Noch bin ich beruflich einigermaßen ausgelastet. Noch finde ich im Supermarkt beinahe alles, was ich habe und mein die geringeren Einnahmen kompensiere ich mit Konsumverzicht, passt ja auch zur Vor-Osternzeit.

Aber dann kommt das Wochenende. Immer noch kenne ich niemanden persönlich, der erkrankt ist, und es wundert mich nicht, dass ich mich am Wochenende dabei ertappe, wie ich denke: „OK, könnten wir das Experiment jetzt bitte beenden?“. Ich bin genervt, dass es schon wieder darum geht, welches Land jetzt besser im Bekämpfen des Virus ist, als ob die Coronkrise jetzt die Olympischen Spiele ersetzen müsste.

Eins der Wochenenden sieht so aus:

Samstag:

Kann die Frage, wen ich jetzt noch treffen darf oder nicht, nicht zufriedenstellend beantworten. Beklage mich bei diversen Menschen über den Lauf der Dinge. Will mich neben einen Freund setzen, der in Wannsee aufs Wasser schaut. Laufe schlussendlich durch die leere Innenstadt und telefoniere mit einer guten Freundin. Danach geht’s mir besser.

Singe abends Karaoke in der Küche. Weiß nicht, ob das schon bescheuert ist.

Sonntag:

Wache grantig auf. Regen. Wasche Wäsche. Beneide die Taube, die mit Regentropfen tanzt und eine Freundin, die mir von ihrem Spaziergang mit Hund gegen harten Nordwind schreibt. Erst ab nachmittags, nach dem ersten von zwei Videocalls mit Freunden fühle ich mich besser. Immerhin habe ich endlich die Fitnessgeräte ausgepackt und mein tägliches Treppentraining (6. Stock, immerhin) läuft auch schon schneller.

Ich höre immer öfter von Leuten, die entlassen worden sind oder nicht wissen, wie das bitte weitergehen soll. Meine Gelassenheit beruflicherseits bröckelt, was insofern wichtig ist, dass die Hoffnung ein wichtiger Bestandteil derselben war.

Sowieso Hoffnung.

Unsinnige Regeln von Parkbankregeln bis zum Umgang mit „Quarantäne“-Verweigerern machen mich ziemlich schnell ziemlich wütend – ich frage mich, ob unsere politisches System wirklich so robust ist. Zu der „Tracing“-App habe ich eine zwiegespaltene Meinung und in der Woche vor Ostern finde ich die 5km-Regel in Sachsen nahezu unerträglich. Mir kommt das „Panther“-Gedicht von Rilke in den Sinn.

Genau so fühle ich mich.

Rainer Maria Rilke

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Aus: Neue Gedichte (1907)

 

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