Pandemie-Tagebuch (3): After Show


Die Gesellschaft leidet. Ich lese es. Ich höre es. Ich sehe es. Es gibt kein „Zurück“ mehr. Die Krise ist gekommen, um zu bleiben. Möglicherweise so lange, bis wir als (Welt-)Gesellschaft endlich etwas verstanden haben. So lange geht es aber erst einmal jedem einzelnen an den Kragen – zu wenig Außen, zu viel Innen – eine teuflische Mischung um verdrängte Lebensthemen auf den Tisch zu hieven. Ob allein oder gemeinsam: spätestens jetzt lernen wir sie kennen, unsere „After Show“-Personality. Das kann grausam sein. Oder höchst erfrischend.

Ich bin nicht überrascht, welche Themen bei mir auf dem Teller liegen. Grimmig bin ich, nicht entsetzt. Und erleichtert, weil ich hoffe, zumindest ein Denkprojekt endlich abzuschließen in der neuen Freiheit, manchertags grumpy sein zu dürfen.

Ich bin 41 Jahre alt und damit in einem Alter, in dem viele mindestens eine Seelenkrise durchlitten haben. Ich meine damit keine Verstimmung oder Enttäuschung, ich spreche nicht von banalem Liebeskummer, von sozial oder beruflich bedingter Genervtheit. Ich spreche von einer echten Krise – einer von äußeren Umständen oder innerem Erleben ausgelösten Stillstand, der so lange andauert, bis man sich traut, den Rucksack mit geliebten Dingen stehen zu lassen und durch diese andere Tür zu gehen. Nicht selten liegt einer Seelenkrise der Verlust eines geliebten Menschen und die Unfähigkeit, danach „einfach so“ weiterzumachen, zugrunde. Der Schmerz und die Trauer vermischen sich mit einem Unvermögen, die Fragen, die diese Situation aufwirft, zu beantworten. Meist stellt der Verlust alte Verluste in ein neues Licht. Der letzte, nicht erträgliche Verlust. Von Hoffnung. Oder Illusion. Die alten Rezepte – weitermachen, wegsehen, übertönen, weglachen – werden nutzlos. Ein akutes oder chronisches Energiedefizit führt zum eigentlichen Meltdown: ein übermächtiger Schock oder die schleichende Entkräftung in einem Alltag, in dem man ständig gegen die gleichen Türen rennt.

Mit solcher Krisenerfahrung ist die Coronakrise recht erträglich – der Stillstand der Welt, zumal die Sanftheit der ersten Wochen, empfand ich eher befreiend. Meine Dämonen kenne ich ganz gut, zumindest ist auch jetzt kein neuer hinzugekommen. Aber in der Hochphase der Kontaktbeschränkungen gab es einige Tage, an denen Platzangst, Wut auf dies und das und das innere Kind gleichzeitig auf meinem Sofa räkelten, und ich dachte so: Näh, kommt. Kneipenabend zur Ablenkung fiel ja flach. Ein Überbleibsel der Pandemie ist möglicherweise, dass ich nun jeden Tag 1-2 Runden spazieren gehe. Wer braucht schon einen Hund zum Gassigehen.

Sprich: Ich kenne mein After-Show … -Gesicht, -Gemüt, -Gedenke aus anderen Krisen schon ganz gut. Die einzige wirklich Neuerung ist, dass ich manchmal im Halbschlaf denke, ich bekäme keine Luft mehr. Obwohl ich normal weiteratme. Schlaf, ach. Anderes Thema.

Im Vergleich zu anderen „Ungerechtigkeiten“, die das Leben mir angeboten hat, habe ich mich aber recht gut damit abgefunden, dass die Coronakrise keine Gerechtigkeit kennt. Es kann. Immer. Und jeden. Und was morgen. Weiß keiner.

Damit lässt sich schlecht planen. Mein Verdacht ist, dass unsere ganze Gesellschaft „After Show“ leben wird, weil wir feststellen, dass wir zu viele Dinge just for show getan, gekauft, geredet haben. In einem früheren Leben, als ich noch sehr oft in die Kneipe ging, in einem der unzähligen Gespräch entspann sich eine Diskussion , die ich damals (vor vielen Jahren, also etwa 5) interessant und deprimierend gleichermaßen fand, und in der mein Gegenüber – dessen stoische Lebenshaltung legendär zu  nennen ist – zu all meinen Weltrettungsmaßnahmen nur einen Satz sagte: „Wenn wir nicht lernen, mit weniger zu leben, wird es nichts.“ Es war auch so ein Satz, der nach dem Spaß kommt, After Show.

Geht es denen besser, die zurzeit nicht „über den Verhältnissen“ leben?  ging es an den Kragen. Denen, die ihr Unwohlsein über Job und Liebe zu lange unterdrückt hatten, ebenso. Viele Familien sind zusammengewachsen, weil du halt merkst: Ok, der regt sich immer über das gleiche auf. ist dann aber auch wieder vorbei. Andere stellen fest, dass sie so viel Familie eigentlich nicht wollten, als sie sich damals im vollen (Un-)Vermögen aufeinander stürzten.  Möglicherweise der Schock, auf den wir alle gewartet haben in einer Welt, die mit der globalen, der Klima- und der politischen Krise seit etwa 2015 in einer Dauererregungserwartung – verharrt war. Unsere Erfahrung der letzten Jahre war möglicherweise, dass wir uns viel angeschrien und aufeinander herumgehackt haben – und schlechte Ereignisse etwas wurden, worüber wir uns seltsam freuten, weil sie „bestätigten“, was wir wussten. Ansonsten gab es viel Zorn und Depression, aber noch viel mehr: Machtlosigkeit und Abwarten. Die Pandemie, die uns verfolgt, ist also vielleicht aus vielen Gründen ein Schockmoment, nicht nur aufgrund der Erkenntnis, dass Pandemiepläne das eine, Pandemiepraxis das andere ist. Das kollektive „Upside-Down“ erst hatte die Macht, zu den Grundfesten unserer vielen, ungelösten Fragen vorzudringen: Wie kann es weitergehen? Müssen wir uns wirklich zwischen einem sozialdarwinistischen Kapitalismus und einem illiberalen Autoritarismus entscheiden? Wie kann die Menschheit jetzt noch den Hebel umlegen?

Der Schock ist da und auch die Hartleibigsten unter uns konnten nicht ignorieren, dass ihr Alltag massiv eingeschränkt, die persönliche Gesundheit einer potentiell tödlichen Gefahr und ihre Zukunftsaussichten düsterer würden.

Der Flüchter wimmert: Aus der Arbeitsroutine in eine fast mittelalterliche Situation des „Aufeinanderhockens“ katapultiert.

Was bleibt? Musik! Musik geht immer.

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