Reise mit Rucksack


Soll man in harten Zeiten reisen? Oder zu Hause bleiben? Reisen. Reisen. Reisen. Ich werde immer fürs Reisen votieren. Und wenn ich dann im Alltag verzichten muss – egal. Nichts bringt mich näher an mein Selbst als Reisen.

Der Trip: Leipzig – Warschau – Riga – Tallinn – Helsinki – Oulu – Helsinki – Travemünde – Leipzig

Die Fahrmittel: Zug, Bus, Schiff [Interrail]

Die Beteiligten: Die 44-jährige Mutter mit vielen Gedanken im Kopf, wie immer provokant optimistisch, für ihre Verhältnisse innerlich aufgeräumt, was sich auch in einer ziemlich professionellen Reiseplanung äußert, der frischgebackene Abiturient, der dem alten Leben entfliehen will, und mit fast 19 wieder anfängt Bücher zu lesen statt zu daddeln (bei Kindern niemals die Hoffnung aufgeben!!!) und der in Helsinki gen Oslo fliegen wird zu seinem Jungmann-Trip auf der Suche nach Lachsen (bislang haben sie nur Kirschen gefunden). Dazu die süße 16-Jährige, deren Status mit dem Alter wohl hinreichend beschrieben ist (*Katzenfauchen*).

Die Zeit: Zu kurz, das war von Anfang an klar, aber für einen Familientrip wahrscheinlich genau lang genug, zumindest haben wir ihn in seltener Übereinkunft eingekürzt (mein Geldbeutel sagt danke), weil 10 Tage finnische Einsamkeit vs. Kind trifft daheim ihre geliebten Freund*innen und Mutti macht ihr Ding, keine schwere Entscheidung war. Jetzt denke ich: Für das volle Bild muss ich sowieso nochmal mitten im Winter an den Polarkreis. Allein.

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Also —- los gehts. Neun Stunden Zugfahrt von Leipzig via Berlin nach Warschau beginnen. Wir fahren an gut gewässerten Maisfeldern vorbei, ich schicke meinem Vater sogar ein Bild davon, weil seine Maiskolben vor dem Fenster mittlerweile so kümmerlich aussehen. Sachsen hat gute Chancen auf die Toskana, aber in Polen sieht die Natur links und rechts des bummelnden Zugs noch prä-klimakritisch aus. Ab und zu ein paar Häuschen, den Gegensatz zwischen einem „alten“ Polen auf dem Land und einem „modernen“ in den Städten ist mir schon beim letzten Ausflug nach Krakau aufgefallen. Auch, dass die beiden Welten recht respektvoll miteinander umgehen, Punks hier, Mütterchen mit Kopftuch da. Wir sitzen in einem Abteil. Ich vermeide sonst Fahrten im Abteil. Aber, hey, es ist Urlaub. Und der Proviantrucksack voll. Das mit dem Interrailticket in der App klappt. Eine Nervosität weniger, wobei ich in diesem Urlaub nur noch wenig die bei Reisen besonders anstrengende Mutter-Vater-Doppelrolle in mir trage. Erstens können wir schlimmstenfalls nur den Zug verpassen (und kein Flugzeug) und zweitens sind die beiden nun halt doch (fast) erwachsen.

Als wir in Warschau ankommen, bin ich überfordert. Was ist das für ein Bahnhof, sind wir schon in der Großstadt? Die internationalen Züge kommen woanders an. Ich fühle mich ausgesetzt und meine Złotys reichen nicht für die Tickets. Schwarzfahren geht nicht, meine Kreditkarte ist verschwunden (taucht aber später wieder auf). Ich muss die EC-Karte benutzen, Gebühren yuchhee, aber immerhin erhalte ich drei Tickets. Meine Tochter geht noch als Kind durch. Aha. Mein Sohn, erwachsen, nimmt mir kurze Zeit später wortlos das Handy aus der Hand und navigiert uns zum Stadtzentrum, wo wir weiterfahren werden in fünf Stunden. Ich bin froh, Beifahrerin im Familienurlaub, das war ich zuletzt auf dem Trip nach Italien mit meinem Vater, vor Corona, also vor hundert Jahren.

Wir laufen etwas orientierungslos herum, so viele hohe Gebäude, wo ist denn hier die Altstadt? Warum will man eigentlich immer in die Altstadt in neuen Städten? Wir werden sie nur zu Teilen finden, versöhnen uns aber und trinken später einen Cocktail zu dem uns umgebenden post-sozialistischen Hochhauspanorama. Ein sehr betrunkener Mann blockiert den einzig freien Tisch, und wir wissen zunächst nicht, dass wir zum Bestellen in den Laden müssen, aber als wir dann 3 riesige Cocktails vor uns stehen haben (ausgerechnet meine Katze den größten, oh je, bad mum), fängt der Urlaub an. Inmitten der gläsernen Hochhäuser steht auch der beeindruckende Kulturpalast – noch von Stalin beauftragt, 1953 – 55 erbaut. Kultur bis zu den Wolken. Gleichzeitig wird mir nirgends mehr amerikanischer Lifestyle: höhere Häuser und breitere Autostraßen, aufgebrezelte Leute und laute Musik begegnen als hier. 𝗪𝗮𝗿𝘀𝗰𝗵𝗮𝘂 – eine Stadt mit Ego. Eine mondäne, schnelle Stadt, die etwas auf sich hält. Ich weiß nicht, wie ich je darauf kam, dass die polnische Hauptstadt uninteressant sein könnte. Und ich verstehe mehr vom Selbstbewusstsein, mit dem Polen in der EU auftritt.

Zwölf Stunden Busfahrt später, die erstaunlich ruhig verläuft und sogar Schlaf anbietet, landen wir in der lettischen Hauptstadt. Der Clash of Culture zwischen Ost und West, der in Warschau vor allem architektonisch ausgetragen wird, erscheint mir deutlicher in 𝗥𝗶𝗴𝗮, wo sich der Bus auf dem Weg zur bekannten schönen Altstadt an aufgerissenen Straßen entlangschlängelt. Ich weiß, dass die Letten wie die anderen baltischen Staaten klar pro-westlich orientiert sind, aber eben auch sehr viel russische Einflüsse in Sprache und Kultur haben. Wenn man an den englischen Sprachkenntnissen im Tourismus ablesen kann, wie westlich ein Land ist, dann wird das später besuchte Estland an Lettland vorbeiziehen. In Riga gibt es Brüche im Stadtbild (es erinnert mich an das ausgemergelte Athen 2017, als man von einer Straße in die andere plötzlich um Jahrzehnte versetzt wurde), aber auch ein großes Bemühen, fertig zu wirken. Die Stadt lebt von ihrem alten Erbe als prachtvolle Ostsee-Kapitale. Sozialistische Skulpturen stehen neben historischen Gebäuden, auch hier sehen wir den Kulturpalast und alte Frauen, die ihre Beeren verkaufen (Kartenzahlung überall!). Der Busbahnof ist in Riga sehr groß und wichtig, wahrscheinlich, weil selbst gen Estland kein Zug durchfährt (Europa und Züge – keine einfache Geschichte), und wir sind als westliche Touristen klar in der Minderheit. Der Krieg: im Transit hier wird er gegenwärtig. Menschen aus dem Baltikum, Ukraine und Russland sitzen im Bus. Die Stimmung unterwegs ist gereizt, Katze, die gerade fünf Jahre Russischunterricht abgewählt hat, übersetzt uns Beschimpfungen („Du Hund!“). Ich wundere mich, wie aggressiv der friedlich wirkende Busfahrer durch die estnischen Wälder rast. Übermüdete Busfahrer überholen übermüdete LKW-Fahrer überholen übermüdete Busfahrer. Aber es gibt keine Autobahn und so spielt sich das Testosterongezicke in Slow Motion ab. Der Standstreifen ist routiniert darin, zur dritten Spur zu werden. Jaja, scheint er zu sagen. Nimm mich statt den Baum da drüben. Ich ärgere mich, dass wir nicht noch einen Strandtag eingebaut habe, Estland hat einige Inseln zu bieten. Und der Strand in Jurmelar bei Riga war ein Traum in blau-strandweiß. Die Ostsee ist dort ein Prachtmeer, Thomas Mann und Familie könnten in einem der hübschen Strandcafés sitzen, in dem wir Eis und Pommes essen. Aber von Estland sehen wir nur Bäume. Es besteht zu 50% aus Wald, und das glaube ich sofort.

Und wir sehen 𝗧𝗮𝗹𝗹𝗶𝗻𝗻! Schon am Vorabend war mir aufgefallen, dass ich bei der Planung doch etwas vergessen habe – den Sightseeingtag in Tallinn. Daher sind wir nur einen halben Tag in der estnischen Hauptstadt. Ausgerechnet! Doch zunächst müssen wir ins Appartment finden. Das Ankommen in einer neuen Umgebung – meine klugen Kinder wissen mittlerweile, dass sie mich da in Ruhe lassen sollten (*Knurren*). Bolt wurde hier erfunden und das sieht man. Wir haben den Bolt-Fahrer am Busbahnhof fast verpasst, weil er selbstbewusst darauf bestand, „am Bolt-Stand“ auf uns zu warten. Nicht er kommt zu uns, sondern wir zu ihm. Bei der Unterkunft angekommen, die zu eng für 3 ist, erhöht sich der Bedarf an Akklimatisierungszeit sprunghaft. Die Katze und ich wandern in weitem Abstand hintereinander hinaus, auf der Suche nach Meer und Altstadt, der junge Erwachsene verbleibt im Appartement auf dem Sofa. Unser Grummeln geht alsbald ins Staunen über. Denn Tallinn ist eine inspirierende, überraschende Stadt. Estland hat sich sehr entschieden der Zukunft zugewendet, das wusste ich schon vorher, weil ich Ehrfurcht vor kluger Digitalisierung habe, und Estland dient oft als Beispiel. Was ich nicht wusste, wie konsequent die Stadt die Transition lebt: klare Verkehrsführung für alle, das Gefühl, es gibt genug Platz, egal wohin ich möchte. Architektonisch laufe ich von einem Highlight ins Nächste. Da ich mich im Leben manchmal wie eine Trümmerfrau fühle, sind mir Umgebungen näher, die ihre Brüche sichtbar machen. Wir laufen am Strand entlang und am Hafen und alles ist blau und weiß und alles ergibt Sinne. Die Menschen sprechen Englisch oder Estnisch und tragen spannende Frisuren. Berlin könnte sich da nochmal was abschauen, Humboldtforum, my ass. Vom Rotermann-Viertel etwa, alte Hafenkontoren und Stadtmauern verbinden sich mit eleganter Restaurant- und Shoppingarchitektur. Nur einen Katzensprung von der beeindruckenden Altstadt und der neuen Stadtmitte entfernt. Überall Trümmer der Geschichte, die sich mit kosmopoliter Backstein- und Glasarchitektur vereinen. Keine Karstadt-Ödnis, ich bin schockverliebt. Die Stadt – mit Hafen! – hatte jenen Edge, den eine globale Gesellschaft bräuchte, um wirklich weiterzukommen. Ich lese viel zu Estland, weil mich interessiert, wieso mir die Stadt erb-entlasteter (aber nicht ahistorisch) wirkt als die vorherigen Hauptstädte mit sozialistischer Vergangenheit, aber, um zu verstehen, dafür muss ich wohl noch einmal herkommen. Gern, du schönes Tallinn, sehr gern!💙

Vielleicht finde ich dann auch noch eine Fähre nach 𝗛𝗲𝗹𝘀𝗶𝗻𝗸𝗶, die ohne Bling-bling für die (finnischen Sauf-)Touristen auskommt (Bällebad, Casino und natürlich Duty Free), aber beeindruckend war es doch: per Schiff von der einen in die andere europäische Hauptstadt in unter 3 Stunden. Finnland ist jenes Land in Skandivien, das ich noch nicht kannte (und Norwegen, das ist 30 Jahre her, das gilt wohl auch nicht mehr). Ich hatte seltsamerweise keinerlei Erwartungen an Helsinki, außer dass der Himmel bitte blau sein möge (war er). Und um es auf den Punkt zu bringen: Helsinki wirkt auch nicht wie eine Stadt, die meine Erwartungen nötig hat. Helsinki ist sich selbst genug, was mich wundert, weil es doch eine Stadt war, wie ich lerne, die so oft wie die Finnen ihre Herrschaftsfarbe geändert hat. Bevor ich das gelesen hatte (ich lese grundsätzlich erst im Land die Landeskunde, weil mir der erste Eindruck heilig ist), war ich mir sicher, dass Helsinki seit 1000 Jahren finnisch ist und sich stets freiwillig zur Erneuerung entschieden hat. Also, du schönes, selbstbewusstes, teues Helsinki, das mich nicht braucht: schön, dass wir uns kennen gelernt haben. Ich glaube, auf den zweiten und dritten Blick bist du auch subversiv. Vielleicht lag es daran, dass an dem Tag auch Biden war da. Auf der Rückfahrt werden meine Katze und ich noch durch die Stadt streifen und wir werden die ruhige Eleganz von Häusern und Hafenatmosphäre zu schätzen wissen. Den Design District werde ich mir merken und auch, dass ich mich zu wenig mit vormoderner nordischer Architektur auskenne. Sowieso erscheint mir mein kunsthistorisches Studiumswissen etwas angestaubt, nun da die Kinder nachfragen, wenn ich ihnen was von gotischen Streben erzähle. Ein Highlight in Helsinki war die Übernachtung im Hostel. So muss es sein, wenn man jung ist und unterwegs ist. Eine schweigende Gemeinschaft, die sich die Küche teilt und – oft – auch den Schlafsaal. Wir logieren im Dreibettzimmer. Angesichts der Restaurantpreise in Helsinki (der Starter 24 Euro) kochen wir selbst. Ich überlasse den Kindern das Kochen, ein deutscher Tourist grinst, weil er die Diskussion um die Zwiebelstückchengröße versteht. Trotzdem übernehme ich bei der Hälfte, wären die Nudeln sonst wohl matsch geworden. Scheele Blicke von der schönen Meute um mich, ich die Alte unter den Twenty Somethings, die allesamt von ihrer Mutter wegwollen. Es tut mir leid, dass ich mit meinen neuen angegrauten Haaren und dem festen Selbstbewusstsein, dass man als Mutter nun mal ausstrahlen muss, im Weg herumstehe. Und ich tue mir selbst leid, dass ich nicht mehr jung bin, weil ich selbst mit ganz viel Zukunft um die Welt reisen will. Vielleicht gibt es Hostels für mittelalte Schachteln? Reden wir dann dort gereizt über die Jugend? Den Abend verbringen meine Kinder mit Telefonieren auf Balkonen und in Straßen, ich streiche durch die Gegend, enträtsele Hausfassaden und lasse mir von Speisekarten bestätigen, dass man in Finnland keinen Alkohol trinkt. Das Bier kostet hier 10 Euro. Tags darauf verabschiede ich einen müden Sohn und fahre mit dem grimmigen Kätzchen per Zug hinauf nach 𝗢𝘂𝗹𝘂. Ich wollte so richtig an den Polarkreis, aber der ist auch von Helsinki noch weit weg, und dann muss man dort vielleicht schon wissen, wie man Ski fährt, was ich nicht kann, also bleiben wir in der Studententstadt Oulu. Dass sie das ist, studentisch, können wir auf den ersten Blick nicht erkennen. Eher: eine mittelgroße, mittelalte Stadt nah am Meer. Oder ist es ein See? Ich lerne, dass der Bottnische Meerbusen weder das eine, noch das andere ist, als wir nach fünf Kilometer Fußmarsch, die wir überwiegend im emotionalen Sicherheitsabstand verbringen, am See ankommen und schmecke das kühle Nass auf der Suche nach Salz ab, aber der einzige Hinweis aufs Meer ist der brackige Beigeschmack. Zwischendurch verliere ich den Kopf meiner nun doch schon fast erwachsenen Tochter aus dem Blick und bin für einen Moment zu lange überzeugt, dass sie im See untergegangen ist, einfach, weil es irgendwann so kommen musste. Die Wellen, die eigentlich keine sind, versperren mir den Blick, und es ist kalt, und das Wasser ist seicht, es wäre albern, wenn ich schwämme, also wate ich, wir sind sicher schon 100 Meter vom Ufer entfernt und noch immer wate ich. Neben mir nur noch zwei und als selbst sie, afrikanische Männer, von denen einer gerade Schwimmen lernt, zurückgehen, bin ich allein, nur weit entfernt bumbelt ein Kopf auf und ab. „It’s cold“, sagt der eine, als er an mir vorbeischwimmtwatet. „Yes, that’s why I have to check if my daughter is alive“, antworte ich und nicke zu diesem unbestimmten Kopf dahinten, und dann sagt er „she is happily floating“ und da weiß ich zumindest, dass der Kopf, der da weit hinten immer wieder aus dem Wasser ragt, der eines Mädchens ist. Und ich kenne nur ein Mädchen, meine Tochter, die unvernünftig weit hinaus ins Wasser schwimmt, auch wenn es kalt ist und man Krämpfe bekommen kann. Und weil sie auch nicht gern schwimmt, taucht sei meistens. Als ich sie erreiche, sage ich lässig, ob sie nach Schweden schwimmen wollte, und sie sagt, ach, und sieht zum Horizont, und ich sage, das Wasser ist echt kalt, und sie sagt nö. Und nach 10 Metern, guck, hier kann man schon wieder stehen. Den Rest des Abends sind wir friedlich. Wir wollen unbedingt mitbekommen, wie das ist mit einer Nacht, die nie dunkel wird, aber natürlich schlafen wir beide ein, obwohl sie sich noch auf den Balkon legt, extra, und ich noch mehr von meinem Buch lese, extra. Aber um Schlafstörungen vorzubeugen, sollte man wohl immer versuchen wollen, wach zu bleiben. Zumindest vershlafen wir die erste weiße Nacht und morgens ist es schon wieder so hell-hell, dass ich froh bin, um ein Uhr nachts noch Beweisfotos gemacht von der ewigen Dämmerung gemacht zu haben. Einmalig! Dieser Tag ist der einzig ungeplante, das ist allein mein schönster Zustand, aber mit der Katze und mir zusammen derzeit ein Wagnis. Was wir wollen: Irgendwas Beeindruckendes in der Natur. Mit Fahrrad. Aber die Katze mag keine E-Bikes und ich keine E-Scooter, also bleiben uns nur die Füße und Bezeichnungen auf der Karte, die nach schöner Natur klingen. Also laufen wir los. Google kennt selbst die Trampelpfade in Nordfinnland, ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finde. Wir marschieren etwa eine halbe Stunde vorbei an beeindruckend modern gebauten Siedlungen, mit Hochhäusern und Appartmenthäusern, die die Sommerlicht und Nachtdunkel geschickt einarbeiten und sich was trauen. Ich staune. Katze wartet geduldig an den Straßenkreuzungen. Danach folgt ein Weg ins Nirvana, unbebaute Ödnis, genau das, was wir nicht wollen. Es könnte aber noch schön werden, also laufen wir weiter. Es ist sicher zu warm heute für Nordfinnland. Unser heißester Tag im Urlaub (26 Grad). Wir landen bei einem Hotspot auf Google und sehen nichts. Und basketballähnliche Körbe mit Ketten, die in der Gegend herumstehen. Ich frage mich kurz, ob das ein Waldfriedhof mit seltsamer Opfergabe ist. Beim Marsch durch die Hügel(chen) entdecken wir aber mehrere schweigsame junge Männergruppen. Ein schöner junger Mann, dem ich eine Karriere als melancholischer Balladensänger zugetraut hätte, wirft mit kaum erkennbarem Ehrgeiz seine Scheiben. Ein anderer schleppt 20 Scheiben in einer eigens gefertigen Tasche herum. Finnen reden tatsächlich weniger als wir, zumindest tagsüber (s. unten). Daher habe ich den Eindruck, einer Prozession von Menschen in kurzen Hosen und Schweigegelübde beizuwohnen. Öfter sieht man Köpfe über Hügel schauen. Wohl, um zu wissen, ob die Bahn frei ist. Leider verstehe ich das erst, als ich mich am Rand des Gebietes zum Pinkeln in die Hocke gesetzt habe. Er schaut hin, ich schaue weg. Zum Aufstehen ist es zu spät. Ich hoffe nicht, dass auch noch von hinten einer guckt und wartet. Aber Finnland scheint mir schrullenfreundlich zu sein. Zumindest ist ein Land der Hobbies, das passiert vielleicht, wenn man nur mit einer guten inneren Einkehr den krassen Jahreslauf überlebt. In Oulu gibt’s die Weltmeisterschaft im Luftgitarrespielen, leider nicht, als wir da sind. Vielleicht sollten die Finnen Friedensverhandlungen führen. Sie wirken im positiven Sinne kriegsunfähig. Und fortschrittspositiv. Auf der ganzen Reise, aber speziell hier, flitzen auf breiten, autofreien Straßen E-Scooter an uns vorbei. Gibt es dafür Führerscheine? Irgendwann probiere ich es auch einmal. Wie auch in Estland sind motorisierter Verkehr und der Rest klar getrennt, man kommt sich nicht in die Quere, es ist ein sehr aufgeräumtes Verkehrsmiteinander. Abends essen wir Pizza, die überraschend gut schmeckt. Auch in der zweiten Nacht scheitere ich am Wachbleiben. En Mann wirft nachts um zwei Uhr Dart auf seinem Balkon, das ist das letzte, was ich sehe. Die Balkone sind hier alle verglast, im Sommer auf, im Winter zu, nutzbar als Wintergarten. Architektonisch komme ich seit Tallinn aus dem Staunen nicht heraus. Aber die Supermärkte sind nicht so skandinavisch, wie wir denken. Verpackungsgrad hoch, Veggie-Index niedrig. Das ist ein sehr touristischer Gedanke, denke ich, frage mich aber auch, ob es das Skandinavien gibt oder Dänemark/Schweden/Norwegen und Finnland. Ich esse Rentierpizza, was auch nichts anderes ist als Flammkuchen. Ein traurig dreinschauender Kellner aus Süditalien spricht perfektes Deutsch mit mir, er habe Freunde im Ruhrgebiet. Finnisch scheint mir doch nicht unlernbar, zumindest weiß ich, dass es ausgesprochen wird, wie geschrieben, und man mit viel Zeit (in einem kalten Winter) bei der nächsten Reise die Straßenschilder und Speisekarten lesen könnte. Seltsamerweise interessiert mich diese Sprache, irgendetwas in ihrem Klang gibt mir die Zuversicht, mich in ihr wohlfühlen zu können. Wir werden sehen, der Winter ist noch lang. Als wir im Nachtzug zurückfahren, wundere ich mich, warum die Finnen nachts in Frequenz und Lautstärke sprechen bis zur Nervgrenze, zumindest bedauern wir zum ersten Mal, keine Ohrstöpsel mitzuhaben. Aber keiner der Hunde bellt, und es fahren viele mit.

Die Vorfreude auf die Rückfahrt per Schiff nach DE wird noch übertroffen. Natürlich auch, weil wir Glück mit dem Wetter haben: Sonne und kein starker Wellengang. Eine Schönwettermeerfahrt auf einem nicht zu vollen Schiff. Die meisten haben ständig einen sitzen, damit fange ich gar nicht erst an. Mir reicht dieses Gefühl 30 Stunden zwischen Horizonten zu fahren. Ich war nie erholter als nach jener Nacht auf dem Schiff, selbst mein Herzschlag schien sich dem Wellenschlag angepasst zu haben, ein Gleichklang zwischen mir und dem Wasser, dem ich unbedingt auf weiteren Reisen nachgehen will. Der Ort, an dem ich – bald! – schreiben will, steht fest. Jetzt muss ich nur wieder Geld einsammeln, denn eines ist mit Kindern und Katzen nie günstig: Urlaub.

Ursprünglich am 21. Juli 2023 auf Facebook veröffentlich. Hier leicht überarbeitet erschienen.

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