Pandemie-Tagebuch (4): Sommerfrühling


Dieser Sommer 2020 ist mein Frühling. Denn ein Jahr ohne Frühling, wie dieses Jahr, ist eigentlich keines. Mein inneres Leben endet im November und beginnt im März.

Das entbiert jeder Logik, weil viele wichtige Menschen – einschließlich meiner Kinder und mir – in dieser Zeit Geburtstag haben. Aber die besten, großen Dinge sind mir immer im März passiert. Und erst, wenn es um 18 Uhr noch hell ist, nenne ich das Ganze „Tag“. Ich bin derart konditioniert auf mein März-Feeling, das ich sogar dazu neige, alles halbwegs Gute im März hochzujazzen. Meine Neigung, allem einen Sinn abzuverlangen, alles zu labeln, gerät dieses Jahr allerdings an seine Grenzen. Ich labele dieses Herumkäfern in den eigenen vier Wänden mit „in die vernünftigen Jahre kommen?!?“, obwohl ich mich lediglich genau so verhalte wie der überwiegende Teil der Menschheit. Im Keine-Ahnung-haben übe ich noch. Auch damit bin ich nicht allein, wie ich in den immer heftiger ausschlagenden Twitter-Eskapaden bemerke. Das Dreschen hat wieder begonnen. Aah.

Häufiger denke ich: Wir verschwinden hinter unseren Masken, sehen monatelang unsere Freunde nicht, reisen höchstens heimlich. Das bietet Möglichkeiten! Als mittelalter Mensch ist die Liste der Versäumnisse und falschen Entscheidungen lang. Meine Hybris (Lebenserhaltungstrieb) ließ mich oft behaupten, alles habe einen Sinn (siehe oben). Aber, ich weiß nicht, ob es das Alter oder 2020 ist, ich gehe mir damit langsam selbst auf die Nerven. Manches ist einfach sch* gelaufen. So!

Als im Juni die Zahlen sinken und wir uns zwar zusammenreißen sollen, aber auch raus dürfen, bekomme ich eine Frühlingssommer-Hektik, weil ich natürlich auch den anrollenden Sommer liebe und jetzt zwei Gefühle auf einmal verwalten muss. Ich feiere also den Anfang des Frühlings und springe fünf Minuten später in den See. Schnell, bevor alles wieder geschlossen wird. Der Abstand ist hier eher förderlich, weil ich gerne nackt bade, aber nicht gerne nacktbade, was aber die meisten an diesem See tun. Mit ausgebreiteten Armen und Beinen breiten sie ihr im besten Sinne pralles Leben vor allen aus, vielleicht schwindet mit dem Scham- auch das Taktgefühl, vielleicht ist das aber auch egal, wozu gibts Köpfhörer, die mir die neueste Pandemiemusik in die Ohren träufelt. Ich mäandere zwischen intellektuellem Geigencountry und smoothem Jazz und schaue der afrikanischen Nilgans-Familie zu, wie sie zwischen den breiten Körpern nach Futter sucht.

Dass ich viel mehr Musik höre als früher, hängt auch mit einer kleinen Herzmutigkeit zusammen. Vielleicht aus Langeweile oder aus Aufregung hat sich über den Lock- genauer Shut-Down eine Bekanntschaft Plus in etwas festeres verwandelt. Oder? Es ist schwer zu sagen, wie alles in diesen Tagen. Bevor sich das sorgsam abgewogene Herzblut wirklich in einen festen, kompakten, rosaroten Eiswürfel verwandelt, bekommt einer von uns – nun, kalte Füße. Ich gewinne den Eindruck, dass es in den 40ern nicht einfacher ist als in den 30ern mit der Liebe. Ekstase und zweite Chance, jugendlicher Leichtsinn und Unsterblichkeit sind passé. Mehrmals bin ich mir uneinig, ob ich das nun gut finde oder nicht. Corona-Sorbet.

Aber ich habe keine Zeit. Ich muss die Zeit nutzen. Zwei Jahreszeiten auf einmal.

Ich fahre mit den Kindern in den Urlaub und poste kaum Fotos, weil ich nicht unvernünftig sein will. Und genieße nichts so sehr wie diese kleine Verwegenheit an den äußersten Zipfel Europas.

Es ist Ende August und ich wäre jetzt bereit für den Sommer.

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