Als es in Ägypten begann, habe ich, nicht nur, weil eine befreundete Familie dort wohnt, zum ersten Mal seit langem eine unverhüllte Begeisterung über ein politisches Ereignis entwickelt. Ich lebe seither im schwindeligen Gefühl, einer bedeutsamen politischen Wende beizuwohnen. Vielleicht, weil ich mich an 1989 nur bruchstückhaft erinnere: aufgeregte Verwandte, rotbackige Geschichtslehrer, unverschämt viel Fernsehzeit und nicht zuletzt meine kindliche Erleichterung, dass „die da drüben“ jetzt endlich Urlaub „in Italien machen dürfen“. Berechtigte Einwürfe, eine schwankende arabische Welt könne am Ende nachteilig für alle sein und die Region jahrelang in Unruhen stürzen, gehen unter im Jubel der Demokratin. Ich lese atmosphärische Artikel wie den von Khaled Alkamissi in der Frankfurter Rundschau und überlege, ob man sagen darf, dass die Facebook-Generation einen informierteren Eindruck macht als die politische Garde auf der Münchner Sicherheitskonferenz.
Egypt will be free
Ich bin durch nichts zu beirren. Nicht davon, dass ein demonstrierendes Volk noch längst kein Land regiert. Nicht von „den Muslimbrüdern“ (allein der Ausdruck …). Nicht von Irak und Afghanistan. Und auch nicht von der Realität etwas zu forsch versprochener „blühendet Landschaften“. Deren Karikatur findet sich allerortens. Wenn der Zug aus Leipzig abfährt, etwa, und die Kinder die zerbrochenen Scheiben alter Lagerhallen bewundern, die dort massenhaft die Gleise säumen. Was ich denn habe, das sei doch hübsch und es glitzere außerdem auch so schön …
Ich denke an die Französische Revolution. Warnungen, dass auf revolutionäre Zeiten stets reaktionäre folgen, empfinde ich als einseitig, schließlich profitiert die französische Seele nachweislich bis heute vom Sturm auf die Bastille (wie die Aachener von Karl dem Großen und die Berliner von gut organisierten Preußen. Wovon wiederum Putin profitiert, ist mir bis heute noch nicht ganz klar). Meine armen Facebook-Freunde ersticken an Links, die ich abfeuere wie Kaugummis auf das ägyptische Establishment.
Egypt can be free
Dass es eine Ästhetisierung politischer Aktion (also auch Gewalt) gibt, die das Gegenteil wahlkampforientierter (also auch empathieloser) 5-Euro-Debatten für Hartz-IV-Empfänger darstellt, ist mir ebenso bewusst wie die Gefahr des chronischen Aufstands, weil die demokratischen Kräfte nicht gut genug organisiert sind.
Nein, meine Begeisterung ist nicht zu stoppen. Ich höre von Bürgerwehren gegen Plünderei. Lese von Dieben, die ihre Beute freiwillig zurückbringen. Ich sehe Demonstranten, die besser Englisch sprechen als mancher aus der Vorstandsetage. Dass aus einer virtuellen Demonstration eine echte geworden ist, zeigt die Dringlichkeit des Aufbegehrens umso deutlicher. Dass der Aufstand nicht scheitern darf, zeigt die globale Macht eines Like-Buttons – auf der Seite „Wir sind alle Khaled Said“. Die Frage, ob es nun eine Facebook-Revolution* ist oder nicht, finde ich etwas dinosaurierhaft (z.B. hier diskutiert). Natürlich!
Und dann: Wie gut ist mir in Erinnerung geblieben, wie mein Freund aus Kairo mir von jener Bekannten erzählte, die stundenlang in einer engen Menschenmenge demonstrieren konnte, „ohne betatscht zu werden“. Das sei eine Ausnahme.
Und es ist das beste Argument. Hosni, das war höchste Zeit!
Egypt is free.
*Es ist, nicht zuletzt, weil es Macht und Möglichkeit virtueller Demokratie bezeugt, mein persönliches Wort des Monats.
(c) Anja Mutschler
Natürlich will ich den Song zum Titel nicht verschweigen. Die Ärzte. Auf ihre Art auch Emanzen (oder: Emanzeer). Hier: http://www.youtube.com/watch?v=Z0Qs5H-f8Yw
LikeLike
Als in Tunesien das Volk den demokratischen Wendepunkt mit der Vertreibung des Präsidenten Ben Ali einleiten konnte, wußten die Despoten anderer arabischer Staaten, dass der Zerfall ihrer Macht mit der Jasminrevolte übertragbar ist. In Ägypten ist dies nun zu sehen gewesen, während in Lybien und Bahrain diese Transformation kurz bevor steht. Ich möchte folgenden Beitrag zur Bedeutung der Jasminrevolte empfehlen: http://2010sdafrika.wordpress.com/2011/01/16/burgerkrieg-droht-in-tunesien-lybiens-blogger-mobilisieren-volk/.
LikeLike