Dialoge I


Als di-aloges Mitglied der Gesellschaft bin ich zwischen Macht und Möglichkeit des Internets hin und her gerissen. Di-alog deshalb,weil  ich beide Zeiten kenne – was mich vom Digital Native unterscheidet: Die analogen Zeiten, in denen man nicht jeden Monat Datenschutzbestimmungen irgendeines Programms lesen musste oder permanent seinen Namen googeln, damit sich kein reputationsschädigender Treffer einnistet. Analoge Zeiten, in denen  der Staat niemals nach einem Fingerabdruck im Ausweis-Chip gefragt hätte. Vermutlich spielt ein Fingerabdruck in heutigen Kriminalgeschichten keine Rolle mehr. Aber aufgewachsen bin ich mit Schimanski und Tappert, die sich den Fingerabdruck vom Täter noch mit Kreidestaub aus dem Fenster meißeln ließen. 1987 wäre es vermutlich völlig undenkbar gewesen, einen unbescholtenen deutschen Bürger um seinen Fingerabdruck zu bitten – ebenso wie er sich verbeten hätte, die Produkte seiner Einkäufe in Zentralkassen zu registrieren oder Statusmeldungen zu verfassen, die auch später noch abrufbar Auskunft darüber geben, wo man sich gerade befindet.

Andererseits empfinde ich mich dem digitalen Zeitalter mittlerweile näher als der Einwegepoche. Die Personen, die moralisch, ideologisch und praktisch bei diesem Thema mitreden, sind kommunikativ und demokratiefreundlich. Außerdem stellen die schnellen und von außen betrachtet nahezu kryptischen Veränderungen der Webtechnologie auf angenehme Weise alte Hierarchien auf den Kopf – wer grau ist, ist nicht mehr automatisch weise. Wer bräsig ist, nicht mehr automatisch am längeren Hebel. In vielen Familien findet ein angenehmer Erfahrungsrückfluss statt: Plötzlich gibt es ein Thema, bei dem die Jungen mehr wissen als die Alten. Die Fragekette verläuft rückwärts und auch in beruflichen Konstellationen trägt man diesem System oft Rechnung. Somit ist das Hauptproblem der interaktiven Gesellschaft vor allem das der Teilhabe (digitale Spaltung) – und damit ein sehr originär demokratietheoretisches Problem. Nicht (nur) wer 18 ist und Bürger seines Landes, sondern wer technisch und finanziell in der Lage ist mitzusurfen, hat heutzutage Einflussmöglichkeiten. Direkt, konkret und transparent. Das ist, wenn ich mein eigenes Politikverständnis beobachte, in dem ich gewohnt war, zeitverschoben, allgemein und heimlich Stellung zu politischen Geschehnissen zu nehmen, doch etwas neues. Und es gefällt mir.

Alles ist politisch – und gerade das Netz, wenn man sich die Utopien vergegenwärtigt, mit denen das Internet von Anfang an ausgestattet war. Die geradezu euphorischen Feiern des zehnten Geburtstags von Wikipedia in den etablierten Medien surfen auch auf der Welle einer immer differenzierteren Web-Wissenschaft. Bürger 2.0, Digitale Gesellschaft, liquid democracy: Die populären Diskussionsthemen zum Einfluss des Webs auf die Gemeinschaft spiegeln uralte demokratische Fragestellungen wider. Und finden manchmal neue, oft überraschende Antworten, die sich langsam aus der „Thread“-Form (den langen Diskussionssträngen in Foren) in das gängige Format von Buch, Talkshow und Partei verwandeln.

Die überraschendste These ist: Gegen den Wildwuchs des Webs hilft Transparenz. Mit WikiLeaks erhält diese Argumentation, die bei den Gründern der Piratenpartei ebenso beliebt ist wie bei Sascha Lobo, dem Apologeten der Digitalen Gesellschaft, seine krasseste Gestalt. Aber auch mit WikiLeaks gilt, dass Geschwätz seit den Ägyptern eine etablierte gewaltfreie Form der Konfrontation ist. Es ist auch anzunehmen (sollten sich Geheimdienste überhaupt irgendwie bezahlt machen), dass fast alle Staaten wussten, was die anderen über sie denken. Alles andere ist – Geschwätz. Westerwelle ist noch im Amt und ein Krieg aufgrund der Aufdeckungen ist nicht in Sicht. Andersherum gab WikiLeaks außerordentlich gute Einsichten in das Geschehen in Afghanistan und wird auch Erhellendes zu anderen geschlossenen System beitragen, die Einfluss auf unseren Alltag haben (Banken und Regierungen zähle ich dazu).

WikiLeaks hat auf außerordentlich deutliche Art und Weise noch etwas anderes gezeigt: dass Menschen in verschiedenen Kontexten verschieden reden. Ein jahrhundertealtes System, das sich mit dem Maß der Bildung zunehmend verfeinert und einen nützlichen und notwendigen Kodex darstellt, mithilfe dessen sich der Kenner orientieren kann, in welchem Zirkel er sich gerade befindet. Ein System, das nützlich ist, besonders für jene, die drin sind. Ein System, das notwendige Abgrenzungen ermöglicht. Und anderen erunmöglicht, Dinge klar zu sehen und aufzudecken. Das ist der Kern der Kritik, die zugleich an den Grundfesten der bewährten parlamentarischen Demokratie kratzt: Hat ein qualitätssicherndes, differenziertes System immer zugleich undurchsichtige Seiten? Und wenn ja, was bedeutet das für die Möglichkeiten einer Demokratie?

Siehe dazu Teil 2 des Blogs …

(c) Anja Mutschler

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